Ferndiagnose - Die Kolumne zum Fernabitur, Folge 4

Multitasking

Nach si, nisi, ne und num, fällt der Boxer Ali um. Lateinische Merksätze sind schon was Feines, bisweilen aber auf sonderartige Weise ambivalent. Während ich gerade noch in lyrischer Manier die grammatikalischen Besonderheiten der vermeintlich so toten Sprache memoriere, kippe ich schon im nächsten Moment selber boxergleich vom Sitze.

Ohnmachtsanfall? Tod durch tote Sprache? Weder noch: was mich aus der Welt der Römer herauskatapultiert, ist die beherzte Notbremsung des Straßenbahnführers. Es folgt ein unfreiwillig intimer Kontakt mit des Vordermanns Nackenpartie - tschuldigung, war keine Absicht - Anschnallgurte hätten hier auch so ihre Daseinsberechtigung. Verletzte sind augenscheinlich nicht zu beklagen, doch halt – hielt ich nicht eben noch unzählige Studienhefte und mein Vokabelkästchen mit rund vierhundert Karteikarten in den Händen? Und überhaupt, wieso gleicht der Fahrgastraum auf einmal den Innereien eines Papiercontainers?

Fest steht: Wer sein heimisches Lernmilieu verlässt und Straßenbahn, Wartezimmer & Co. zum omnipräsenten Klassenzimmer umfunktioniert, darf sich auf einiges gefasst machen. Was in der eigenen Planung noch so sinnvoll, unter zeitökonomischen Gesichtspunkten so durchdacht erschien, erweist sich in der Realität nicht selten als Rohrkrepierer. Lernen in freier Wildbahn rangiert hinsichtlich seines Frustrationspotentials noch vor dem Akt des Fensterputzens bei strahlendem Sonnenschein, in punkto Ineffizient toppt es bisweilen sogar die Bedienung fehlprogrammierter DB-Fahrkartenautomaten.

Zunächst freilich lässt der motivierte Lerner solch destruktives Gedankengut nicht an sich heran. Er gibt sich der Illusion hin, simples Auswendiglernen sei überall möglich - in der Kaffeepause ebenso wie im allmorgendlichen Stau. Ein Bewusstseinswandel findet erst mit dem Aufkreuzen vereinzelter Störquellen statt. Der höchste Störfaktor kommt dabei – wie sollte es auch anders sein – unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu.

Beispiel Wartezimmer. Als solches ein vermeintlich idealer Lernort, ist es von Gala- und Neue-Revue-Geschwätz meist derart akustisch kontaminiert, dass an gewissenhaftes Büffeln nicht zu denken ist. Anstatt das Periodensystem der chemischen Elemente endlich durchstiegen zu haben, weiß man hinterher en detail über die monegassischen Verwandtschaftsverhältnisse Bescheid. Prima. Vielleicht kommt man in der Geschichtsprüfung ja drauf zu sprechen.

Nicht minder kläglich scheitert der Versuch, auch das Kassenschlangestehen dem Prinzip maximierter Zeitausnutzung zu unterwerfen und von nun an innerlich deklinierend-konjugierend den Römersalat aufs Band zu legen. Weil das rasche Umschalten zwischen Lern- und Lidl-Welt oftmals aber nicht so recht klappen will, streckt man der schockierten Kassiererin auch schon mal gerne eine Auswahl bekritzelter Lernkarten als Zahlungsmittel entgegen. Rollt man dann auch noch im Zustand höchster Kognitionsleistung mit dem Einkaufswagen zurück zur Bushaltestelle (im schlimmsten Fall direkt vor den fahrenden Bus), ist der Gipfel der Peinlichkeit erreicht – und die soziale Akzeptanz endgültig dahin.

Was also gilt es zu beachten? Die EG-Gesundheitsminister warnen: Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit. Ich befürchte: Lernen in der Öffentlichkeit gefährdet sie ungleich stärker. Zum Glück aber gibt es die eigenen vier Wände. Herrliche Ruhe. Vollkommene Stille. Absolute Konzentration. Und nur ab und zu schrilles Telefongeklingel und markerschütterndes Kindergeschrei…